„Mit einem Apfel will ich Paris in Erstaunen versetzen“, soll der Maler Paul Cézanne einmal gesagt haben. Der „Vater der Moderne“, wie er später von anderen bezeichnet wurde, meinte damit nicht etwa die besonders naturalistische oder makellose malerische Darstellung eines Apfels, mit der er die Pariser Kunstszene beeindrucken wollte. Vielmehr bot ihm das Stilllebenmotiv die Folie für seine Raum- und Körperstudien, die die Grundlage der modernen Malerei bilden sollten. Rainer Maria Rilke stellte 1907 in einem Brief an seine Frau Clara Rilke-Westhoff fest, Cézanne „wusste seine Liebe zu jedem Apfel zu verbeißen und in dem gemalten Apfel unterzubringen für immer.“ Cézannes Äpfel seien keine essbaren Früchte, sondern Äpfel in der Malerei – dauerhaft und solide.
Paula Modersohn-Becker teilte mit Rilke die Begeisterung für die Malerei Cézannes. Erstmals hatte sie 1900 in Paris Werke des Malers gesehen. Seine Formexperimente, die Zerlegung der Gegenstände und des Raumes in Farbformen sowie die lebendige Oberflächenstruktur seiner Bilder, die keine Perspektive und Illusion kennt, standen ihren eigenen malerischen Zielen nahe. Ab 1905 beschäftigte sie sich selbst intensiv mit Stillleben: mehr als 50 der insgesamt rund 70 Stillleben in ihrem Werk entstanden in ihren letzten Schaffensjahren.
Anders als viele ihrer Landschaften und Bildnisse wirken die Stillleben nie skizzenhaft. Ein treffendes Beispiel ist das hinreißende Stillleben mit Tomaten, Apfelsine und Zitrone vom Mai/Juni 1906, das sich als Dauerleihgabe neu im Paula Modersohn-Becker Museum befindet. Eine Zitrone im Zentrum, um die sich drei Tomaten und eine Apfelsine auf einem mit Blüten bemalten Teller gruppieren, mehr braucht Paula Modersohn-Becker nicht, um eine ganze Welt zu entwerfen. Die Alltäglichkeit des Motivs und die vermeintlich simple Anordnung offenbaren ihren Reichtum erst auf den zweiten Blick. So reduzierte Paula Modersohn-Becker die Formen der Früchte und Tomaten auf ihre Grundprinzipien, die sich in der Rundung des Tellers wiederfinden, und band sie über eine einheitliche Oberflächengestaltung zusammen. Mit leuchtenden, kontrastreichen Farben (die sich vom Zitronengelb bis zum tiefen Tomatenrot steigern) und wechselnden Perspektiven verlieh sie den Alltagsdingen eine ungewöhnliche Präsenz. Aus welcher Richtung blickt die Künstlerin (und damit wir als Betrachter*innen) auf die Anordnung? Von oben oder von der Seite? Keine Sicht scheint so recht zu funktionieren, gleichzeitig spürt man, wie die Früchte und Tomaten durch die Gedankenspiele in Bewegung geraten und ihr Eigenleben im Kontrast zu der ornamentalen Gestaltung des Tellers entfalten. Wie bei Cézanne bot gerade die vermeintlich anspruchslose Gattung des Stilllebens Paula Modersohn-Becker ein reiches Experimentierfeld, um ihr eigenes Farbempfinden und eine selbstständige Raumanschauung zum Ausdruck zu bringen. Welche Kraft die oftmals kleinen Formate (hier 27 x 35 cm) erzeugen, überrascht einmal mehr.
Paula Modersohn-Becker, Stillleben mit Tomaten, Apfelsine und Zitrone, 1906, Öltempera auf Leinwand, Dauerleihgabe aus Privatbesitz
Paula Modersohn-Becker malte das Stillleben mit Tomaten, Apfelsine und Zitrone im Mai/Juni 1906, als sie in Paris lebte. Auch hier findet sich eine Parallele zu Cézanne: Obwohl sich beide immer wieder in Paris aufhielten, griffen sie Kunstmetropole nicht direkt in ihren Bildern auf. Paris mit seinen Akademien, Museen und dem lebendigen Austausch unter den Künstlerinnen und Künstlern wirkte vielmehr als Katalysator, die eigene Malerei weiterzuentwickeln. Paula Modersohn-Becker hatte im Frühjahr 1906 den Bildhauer Bernhard Hoetger in Paris kennengelernt. Anfang Mai besuchte er die Malerin in ihrem Atelier und zeigte sich überzeugt von ihrem Talent. Durch den Zuspruch bestärkt, arbeitete sie in folgenden Wochen intensiv an großformatigen Figurenbildern wie der Liegenden Mutter mit Kind II (Paula Modersohn-Becker Museum, Bremen) und Stillleben (Diese Begegnung war unter anderem Thema der Sonderausstellung „Avantgarde. Bernhard Hoetger und Paula Modersohn-Becker in Paris“, die vom 24.4.2021 bis zum 5. September 2021 im Paula Modesohn-Becker Museum zu sehen war. Hier zum Katalog). An Martha Vogeler schrieb sie: „Ich male lebensgroße Akte und Stillleben mit Gottvertrauen und Selbstvertrauen.“ Und an Otto Modersohn: „Es wird. Ich arbeite ganz riesig. Ich glaube, es wird.“