Kunstmuseen sind Orte des Sehens. Doch auch blinde und seheingeschränkte Personen haben Interesse an Kunst. Schon lange ist Inklusion ein großes Thema in den Museen und es gibt verschiedene Angebote für Menschen mit Einschränkungen. Im November 2019 haben wir zur damaligen Sonderausstellung „Ich bin Ich – Paula Modersohn-Becker. Die Selbstbildnisse“ ein 3D-Relief des „Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag“ von Paula Modersohn-Becker das erste Mal im Rahmen einer Führung für Blinde und Sehbeeinträchtige präsentiert und damit – Zitat einer Teilnehmerin – „eine neue Welt“ für seheingeschränkte Kunstinteressierte eröffnet.
Auch während der Laufzeit der Sonderausstellung „Berührend – Annäherung an ein wesentliches Bedürfnis“ (bis 11. April 2021 verlängert) war dieser spezielle Rundgang geplant. Doch durch die Einschränkungen in der Corona-Pandemie wurden diese Pläne zunichtegemacht. Unsere Museumspädagogin Anne Beel erfuhr schließlich von einem Angebot des Deutschen Historischen Museums in Berlin, das telefonische Führungen für blinde und seheingeschränkte Personen anbietet. Kann das funktionieren? Wir haben es gemeinsam mit Lara Franke, mit der wir seit Längerem Führungen für blinde und seheingeschränkte Personen anbieten, versucht. Am 4. Februar 2021 war der erste Termin.
Almuth Ott-Jöhnk war eine Teilnehmerin dieser Premiere und stand danach für uns zum Gespräch bereit. Sie selbst ist durch eine Augenerkrankung erheblich sehgemindert, hat jedoch noch ein Restsehvermögen, das es ihr ermöglicht, auch mit Seheinschränkung weiterhin Museen zu besuchen. „Dadurch, dass ich lange sehen konnte, sind beispielweise Farben mir ein Begriff. Personen, die blind geboren und früh augenerkrankten, haben keine Vorstellung davon, was Grün ist. Das muss man durch Vergleiche und Erfahrungswerte versuchen zu erklären.“ Und das ist auch etwas, das Almuth Ott-Jöhnk generell im Umgang mit Blinden und Seheingeschränkten empfiehlt. „Es gibt Studien, die belegen, dass Menschen mit Sehbehinderung unglaublich offen und kommunikativ sind. Das erklärt sich ja auch quasi von selbst: Damit wir gut durch das Leben und den Alltag kommen, müssen wir sprechen, müssen den Kontakt zu Sehenden suchen. Erst wenn wir etwas erklärt oder beschrieben bekommen, können wir Dinge verstehen und – wie bei der Kunst – vor dem inneren Auge sehen. Doch das gilt auch Andersherum. Um unsere Behinderung und unsere Bedürfnisse zu verstehen, sollten die Sehenden das Gespräch mit uns suchen.“
In Bezug auf die Führung haben ihr vor allem zwei Dinge gefallen: „Mir hat es sehr gut gefallen, dass Lara Franke auch ihre subjektive Wahrnehmung in die Führung hat einfließen lassen. Außerdem waren ihre Beschreibungen sehr genau und strukturiert.“ Und das fängt eben bei einer solchen Führung nicht unmittelbar beim Kunstwerk an, sondern bei dem Ort, an dem die Führung stattfindet und den Räumen, in denen sich die Kunstwerke befinden. „Ich persönlich mag es, wenn ich mir vorstellen kann, wie viele Kunstwerke in einem Raum hängen und ob es links oder rechts vom Eingang hängt. Das ermöglicht mir, ein Gefühl für den Raum zu bekommen.“ Bei der Beschreibung der Kunstwerke sind zunächst die grundlegenden Informationen wichtig, die für Sehende häufig über das Auge vermittelt werden: die Größe, das Material, die Verarbeitung und die Farben. Danach geht es darum, was abgebildet ist. Da kann es dann auch zu Missverständnissen kommen. „Die Holzskulpturen von Stephan Balkenhol waren etwas knifflig. Erst zum Schluss wurde den Teilnehmerinnen und Teilnehmern klar, dass die Figuren Teil des Baumstamms sind und nicht nur darauf abgestellt wurden.“ Es sind halt solche Kleinigkeiten, die sich dem Sehenden über das Auge erschließen, blinden und seheingeschränkten Personen allerdings erst durch Beschreibungen klar werden.
Insgesamt hat die Führung etwas mehr als eine Stunde gedauert. Und das war anscheinend nicht zu viel. Denn Almuth Ott-Jöhnk würde wieder an einem solchen Kunst-Telefonat teilnehmen. „Ich fand es sehr gut, dass verschiedene Kunstwerke vorgestellt wurden. Mal ein Gemälde, dann eine Skulptur aber auch Videoarbeiten.“ Der große Vorteil einer telefonischen Führung sei, dass man nicht vor Ort sein müsse. Es ist vor allem für blinde und seheingeschränkte Berufstätige ein großer Gewinn. „Es gibt viele Menschen mit Sehbehinderungen, die nach Feierabend einfach zu kaputt sind, um noch an einer Führung vor Ort teilzunehmen.“
Tatsächlich ist die Resonanz auf die telefonische Führung sehr groß. Und das bemerkenswerteste ist: Die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind nicht aus Bremen. Die Nachricht der Führung ist bis nach Hannover, sogar bis ins weit entfernte Bayern gedrungen. „Solche Angebote sind wichtig. Als Menschen mit Sehbehinderung haben wir nicht die Möglichkeit zu 100 Prozent am normalen Leben teilzunehmen. Ich versuche so viele verschiedene Angebote zu nutzen, wie irgendwie möglich.“ Auf die Frage, ob Almuth Ott-Jöhnk das nächste Mal lieber an einer Führung vor Ort im Museum teilnehmen möchte, wenn die Einschränkungen wegen des Corona-Virus Vergangenheit sind, sagt sie: „Wieso das eine oder das andere. Beides hat seine Qualitäten. Sie wollen ja auch Abwechslung bei Ihrer Freizeitgestaltung haben.“