Was ist Kunst? Eng verbunden mit dieser häufig gestellten und selten befriedigend beantworteten Frage ist jene, wer sich eigentlich Künstler nennen darf. Der Begriff ist nicht geschützt, jede und jeder kann sich Musiker, Schauspielerin oder Maler nennen. Gemeinhin herrscht aber doch die Vorstellung, dass diese Personen eine Ausbildung an einem Konservatorium, einer Schauspielschule oder einer Kunstakademie absolviert haben. Und in der Regel trifft dies auch zu. Aber keine Regel ohne Ausnahme. Wie viele erfolgreiche Schauspieler und Musiker kennen wir, die auch ohne einen Besuch der Otto Falckenberg Schule oder des Mozarteum Karriere gemacht haben? Das Internet, die Theater und Clubs sind voll von ihnen. Auch bei den Bildenden Künstlerinnen und Künstlern ist die Liste lang. Dort finden sich bekannte Namen wie Jean-Michel Basquiat, Paul Cézanne, Gustave Courbet, Robert Delaunay, Dan Flavin, Vincent van Gogh, Ernst-Ludwig Kirchner, Henri Laurens, Nam June Paik, Yves Tanguy, Suzanne Valadon und Wols. Einige von ihnen wie Laurens (Steinmetzlehre). Delaunay (Lehre als Bühnen- und Dekorationsmaler) oder Kirchner (Architekturstudium) besuchten zwar keine Akademie, genossen stattdessen aber eine artverwandte Ausbildung.
Viele dieser Künstlerinnen und Künstler mussten Widerstände überwinden, sei es, dass sie ohne Ausbildung nicht voll akzeptiert wurden, sei es, dass sie ohne Aussicht auf Stipendien und Preise ihren Lebensunterhalt eine Zeitlang anderweitig verdienen mussten. Und dennoch oder gerade deswegen haben sie einen Weg gesucht und gefunden, der sie in die Kunstwelt geführt und in Kontakt mit Galerien, Museen und Kritikern gebracht hat. Dies verbindet sie mit den „Malern des heiligen Herzens“, die vom deutschen Kunsthändler Wilhelm Uhde gefördert und bekannt gemacht wurden. Würden wir ohne sein Engagement heute von Séraphine Louis oder Camille Bombois wissen, wären deren Werke in Sammlungen und auf Ausstellungen zu sehen? Wohl kaum. Auch die eingangs genannten Künstler haben sich ihren Platz in der Kunstgeschichte als Quereinsteiger erkämpft. Manchen ist dies leichter zugefallen, etwa Basquiat, der als Musiker und Gast einer TV Show in den Kreis von Andy Warhol gelangte – welcher im Übrigen nicht Kunst, sondern Gebrauchsgrafik studierte – und auch mit seiner Malerei schnell erfolgreich wurde. Paul Cézanne galt lange als Künstler-Künstler, also ein Künstler, dessen Namen man sich in Kollegenkreisen zuraunte und den man lange vor der posthumen öffentlichen Würdigung schätze. Von der École des Beaux-Arts wurde er abgewiesen. Nam June Paik war Komponist und Mitarbeiter von Karlheinz Stockhausen, bevor er als Pionier der Videokunst und Akteur der Fluxus-Bewegung Teil der Kunstwelt wurde.
Insbesondere Basquiat und Paik haben ihre außerhalb der Bildenden Kunst erworbenen Fähigkeiten und Interessen in ihre Kunst eingebacht und so etwas Neues geschaffen. Gerade darin liegt das Potential der Autodidakten: jenseits der teils engen Grenzen eines akademischen Kunstverständnisses können diese leichter neue Formen und andere Themen finden und bestehende Kunstgattungen sprengen. Der unverstellte Blick eines Henri Rousseau hat das Kunstverständnis des ausgebildeten Malers Picasso erweitert. Die Einbeziehung von bewegtem Bild und Musik hat neue Ausdrucksmöglichkeiten von Performance bis zum Musikvideo ermöglicht. Vor diesem Hintergrund sollte der Begriff des Autodidaktischen eigentlich nur noch von denjenigen negativ belegt werden, die ängstlich darum bemüht sind, ihre angestammten „künstlerischen Latifundien“ bewahren und vor Übergriffen und Veränderungen schützen zu wollen. Kunst ist, was ein Künstler macht – und wer ein Künstler ist, steht nicht unbedingt in den Aufnahmeregeln einer Akademie oder den Meldeunterlagen von Einwohnermeldeamt oder Steuerbehörde geschrieben.
- Autor: Dr. Frank Schmidt